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Brief vom 19. Juni 1712

von Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans
an Kurfürstin Sophie von Hannover


800.


[316]
Marly den 19. Juni 1712.
E. L. seindt mir gar zu gnädig, im wacker[1] werden ahn mir zu gedencken, aber ich kan das mitt warheit sagen, daß keine stundt im tage, da ich nicht ahn E. L. gedencke. Abendts dencke ich: nun spatziren E. L. zu Hernhaussen in Dero schönnen gartten undt spiellen à la poule[2], undt alle augenblick wünsche ich E. L. zu sehen undt auffzuwartten undt vor alle gnaden zu dancken, so ich all mein leben ja 60 jahr lang genoßen ohne [317] aufhören. Wenn unßer Herrgott gebette erhören wolte, würden E. L. nicht allein über hundert jahr bleiben, wie sie nun sein, sondern sie würden gar unsterblich werden, denn niemandts ist es mehr wehrt, alß E. L. Ahn meinem leben mag mir vielleicht mein knie- undt lendenwehe nicht schaden, aber zurecht werde ich woll mein leben nicht mehr kommen. Gestern ging ich, wiewoll mitt mühe, eine halbe stunde morgendts spatziren undt nahe bey einer stundt des abendts; weitter komme ich nicht. Meine Heydelbergische sprüng seindt lengst vorbey; alle berge dort herumb bin ich alle geklettert außer den Königsstuhl, da bin ich nie auff geweßen. E. L. haben woll recht, zu sagen, daß alles in dießer welt endert, aber man kan auch dabey das alte sprichwordt cittiren: Alle tag waß neües undt selten waß guts
Alles was mir der hertzog von Wolffenbüttel[3] von seinem beichtsvatter geschriben, ist recht raisonabel; wenn alle geistlichen so raisonabel weren, alß der patter Hamilton[4], weren die christliche religionen einiger, alß sie sein, undt würden christlicher leben, denn sie würden sich nicht haßen, wie sie nun thun, undt welches pur undt allein der pfaffen schuldt. Mich wundert, daß hertzog Anthon Ulrich so wenig in seinem schönnen Salsthal[5] bleibt undt allezeit reist …
Gleich nach dem eßen habe ich nach meiner schlimmen gewohnheit eine stundt geschlaffen, hernach, wie ich wacker worden, habe ich 5 brieff geleßen, so alle gar groß waren, das hatt mich biß auff dieße stundt auffgehalten. Nun sitze ich vor meinem schönen fenster, wo es schön undt kühl, zwischen zwey vögelger, so singen: ein rohtbrüstgen undt canarievögelgen; vor mir sitzt mein papagay undt umb mich herumb seindt meine hündger, die spiellen mitt einander, undt geraht hinter mir stehet die fraw von Rotzenhaussen[6] undt kratzt mir den rücken, wo mich eine schnack gestochen; im andern fenster spiellen meine damen berlan[7]
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Empfohlene Zitierweise:
Brief vom 19. Juni 1712 von Elisabeth Charlotte an Sophie von Hannover
in: Briefe der Herzogin …, Hg. E. Bodemann, Band 2 (1891), S. 316–317
Onlinetext URL: https://www.elisabeth-charlotte.eu/b/d08b0800.html
Änderungsstand:
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